Salzburger Nachrichten, 16.03.2024 - Gernot Stadler
Der Bierbrunnen ist nicht versieg(el)t
Ein Vorzeigeprojekt legt offen, was beim Verdichten in der Stadt alles möglich ist. Seit dem Vorjahr ist das Büro-, Geschäfts- und Wohngebäude am Lieferinger Spitz in Salzburg fertig.
Wenn bebaute Flächen in Städten effizienter genutzt werden, heißt das Nachverdichtung. Städte sollen so nach innen wachsen, die Wohndichte erhöht und der Zersiedelung entgegengewirkt werden. Gleichzeitig geht es auch im Stadtraum darum, bestehenden Grünraum möglichst zu erhalten.
Ein Projekt, das alle diese Parameter berücksichtigt, ist im Vorjahr auf der Münchner Bundesstraße entstanden. Das fünf- bis sechsstöckige Gebäude ragt unübersehbar über den Kreuzungsbereich mit Forellenweg und Lieferinger Hauptstraße.
Start für das Projekt war im Herbst 2021 mit der Verbreiterung der Münchner Bundesstraße auf vier Fahrspuren plus Rad- und Gehweg. Zwei Häuser wurden abgerissen, darunter das ehemalige Gasthaus Bierbrunnen. Außerdem musste ein 280 Quadratmeter großer Grundstücksstreifen für die Straßenverbreiterung an das Land abgetreten werden. Auf der verbliebenen etwa 2050 Quadratmeter großen, bebaubaren Fläche wollte der Immobilienentwickler Fabian Vorderegger ein sinnvolles und architektonisch anspruchsvolles Projekt realisieren, das auch ein bestehendes Bürogebäude in zweiter Reihe miteinbezog.
Der Plan dafür stammt vom Architekturbüro Lechner & Lechner, das auch das prägnante Nahversorgungszentrum im Norden von Itzling mitverantwortete. In der Münchner Bundesstraße hieß es für den Architekten Horst Lechner, „aus der Pragmatik eine gestalterische Logik zu entwickeln, etwas anderes war auf diesem Bauplatz nicht möglich“.
Der beengte Raum und die ehrgeizigen Pläne erforderten von seinem Team viele „Bastelstunden“ mit bis zu 50 Modellen aus dem 3D-Drucker, bis das jetzige Ergebnis feststand. „Eine technische Lösung in etwas formal Ansprechendes umzuwandeln war bei dem Projekt eine echte Challenge“, meint Architektin Christine Lechner. Entstanden ist ein markanter, klar gegliederter Baukörper, der sich deutlich von den beliebigen Gewerbebauten entlang der Münchner Bundesstraße abhebt, aber auch einen guten Übergang zum ländlichen Gefüge Richtung Salzachseen schafft. 34 Mietwohnungen und 14 Gewerbeeinheiten fanden darin Platz.
Hoch über der B155
Die Tatsache, dass auf Seite der Münchner Bundesstraße ein großer Teil des Grundstücks abgetreten werden musste, wird bei dem Projekt geschickt kompensiert. Das Gebäude überragt ab dem dritten Stockwerk den Straßenbereich auf Seite der Münchner Bundesstraße und des Forellenwegs um bis zu 7,5 Meter. Von Norden kommend fällt der kühn an den Rand der unteren Geschoße verschobene Baukörper gleich ins Auge. Rad- und Gehweg verlaufen teilweise unter dem Vorsprung hindurch. Der durch Fahrbahn, Rad- und Gehweg ohnehin versiegelte Bereich wird auf rund 180 Quadratmetern Fläche doppelt genutzt. Vom auskragenden Bauteil in den drei obersten Geschoßen bietet sich eine völlig neue Sichtachse hoch über der Münchner Bundesstraße Richtung Altstadt und Kleßheim.
Der insgesamt rund 20 Meter hohe Baukörper ist wie ein Schutzschild gegen das hohe Verkehrsaufkommen und den Straßenlärm an der Haupteinfahrtsachse in die Landeshauptstadt. An sie grenzen ausschließlich Geschäftsräume, Büros und Zugänge zu den Wohnungen.
Dahinter öffnen sich die Wohneinheiten zur straßen- und schallabgewandten Seite des Gebäudes hin. „Die Mischnutzung von Wohnen und Arbeiten ist etwas Selbstverständliches in der Stadt. Man muss nur aufpassen, dass alles seine geschützte Zone bekommt“, sagt Christine Lechner.
Ruhige Wohnbereiche
Wie in einem Amphitheater ist der abgerundete L-förmige Baukörper auf der Rückseite Stockwerk für Stockwerk stufenförmig um großzügige Terrassen zurückversetzt. Die geforderten Mindestabstände zum Nachbargrundstück schaffen einen sanften Übergang zum dörflichen Charakter der Seitenstraßen der Münchner Bundesstraße. Im Unterschied zur verbauten Straßenseite wird dem Grün viel Raum gegeben. Auf den „obersten Rängen“ haben die Kinder ihren Bereich. Aus Platzgründen wurde der vorgeschriebene Kinderspielplatz auf das begrünte Dach des Gebäudes gesetzt. Am höchsten Punkt gibt es sogar eine Spielwiese.
Entsiegelt und begrünt
Die Bilanz in Sachen Nachhaltigkeit ist durchaus herzeigbar. Die beiden Grundstücke, die früher an der Münchner Bundesstraße standen, waren fast durchgehend durch Gebäude und Parkplätze versiegelt. Der Neubau, der oberirdisch immerhin 3800 Quadratmeter Fläche nutzt, hat den Grundverbrauch kaum verändert. Laut Horst Lechner wurde aber trotzdem versucht, „so weit wie möglich zu entsiegeln“. „Wir haben die Dächer begrünt, zwei Baumreihen, vertikale Bepflanzungen und große Blumentröge mit Sträuchern auf den Terrassen geschaffen.“ Ein Gebäude am Forellenweg blieb unverändert und wurde lediglich mit zwei Wohnetagen in Holzbauweise überbaut. „Das Gebäude zu erhalten war nicht nur eine pragmatische Überlegung. Ein Neubau hätte zusätzlichen CO2-Ausstoß, Energie- und Ressourcenverbrauch bedeutet. So wurde viel graue Energie bewahrt“, ergänzt er.
Das Gebäude wird mit Erdwärme aus Tiefenbohrungen und Wärmepumpen beheizt und gewinnt Strom aus Photovoltaikflächen am Dach. Das Verkehrskonzept stellte die Planer vor besonders große Herausforderungen. Für die Vergrößerung der bestehenden Tiefgarage um Stapelparkplätze sowie eine mit einem Großraumlift erreichbare Fahrradtiefgarage wurde laut Horst Lechner „unterirdisch jeder verfügbare Quadratmeter genutzt“. Das Mobilitätskonzept, das auch Carsharing miteinschließt, wird offenbar gut angenommen. Von den 34 für Wohnungen vorgesehenen Parkplätzen werden nur zehn benötigt. Was war das Spannende an dem Projekt? Horst Lechner: „Auf einem Flecken, den keiner schön findet, kann man kreativ sein. Hier gibt es weniger Denkverbote.“
Text: Salzburger Nachrichten, Gernot Stadler
Fotos: Julian Höck
Veröffentlicht: Samstag, 16.03.2024
Projekt: MB
Status: abgeschlossen
Bauträger: VO & RMI Immobilien GmbH